"Und was hat das alles mit mir zu tun?“ Seminar des Arbeitskreises Museumspädagogik Ostdeutschland

"Und was hat das alles mit mir zu tun?“ Seminar des Arbeitskreises Museumspädagogik Ostdeutschland

Organizer(s)
Arbeitskreises Museumspädagogik Ostdeutschland (AKMPO)
Location
Bautzen
Country
Germany
From - Until
15.09.2006 - 16.09.2006
By
Ines Schnee, Dresden

Unter dem Titel „Und was hat das alles mit mir zu tun?“ fand vom 15. bis 16. September 2006 in Bautzen ein Seminar zu biographiebezogenen Methoden der Museumspädagogik statt. Veranstaltet wurde das Seminar vom Arbeitskreis Museumspädagogik Ostdeutschland (AKMPO)1 als dessen Jahrestagung. Der AKMPO veranstaltet seine Jahrestagungen abwechselnd als Fachtagungen für ein größeres Publikum2 und als Seminare im kleineren Kreis.

Ziel des Seminars war es, biographiebezogene Methoden vorzustellen, mit der Besuchern die Relevanz einer Ausstellung oder die Begeisterung für eine Thematik vermittelt werden kann, auch bei größeren zeitlichen und emotionalen Abständen zu den Ausstellungsthemen. Gleichzeitig werden bei den biographiebezogenen Methoden die Erfahrungen, die Lebenswelt und das historische Wissen der Besucher in die Vermittlungsarbeit einbezogen.
Der Seminarcharakter – 21 Museumspädagogen aus großen und kleinen Museen trafen in Bautzen zusammen – ermöglichte eine intensive Beschäftigung mit den vorgestellten Methoden und ihrer Anwendung im Museum. Es war in der Runde möglich, methodische Ansätze selbst auszuprobieren und zu diskutieren.

Begrüßt wurden die Teilnehmer am Freitag, dem 15. September, am ersten Tagungsort, der Gedenkstätte Bautzen, von Susanne Hattig, Pädagogin der Gedenkstätte. Sie erläuterte die Geschichte der Gefängnisse Bautzen I und II, die 1904 bzw. 1906 eröffnet worden waren. In Bautzen II befand sich seit 1956 das „Stasi-Gefängnis“, heute ist hier die Gedenkstätte untergebracht. Anschließend begrüßte Stefan Bresky, Museumspädagoge am Deutschen Historischen Museum in Berlin und Vorsitzender des AKMPO, die Teilnehmer und legte die Intention zur Veranstaltung des Seminars dar. Der AKMPO versteht sich als Arbeitsplattform, auf der Museumspädagogen aller Museumstypen, mit verschiedensten Interessen, unabhängig von ihrem Aufgabenfeld und ihrer Anstellungsart, im Museum zusammentreffen und sich austauschen können. Der AKMPO bietet mit seinen Jahresversammlungen die Möglichkeit zur Weiterbildung und zum Gedankenaustausch. Intention und Thema der Tagung stellte anschließend die Initiatorin und Organisatorin des Seminars, Mareike Ballerstedt, Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit im Focke-Museum Bremen und Vorstandsmitglied des AKMPO, den Seminarteilnehmern vor. Es gelte, Brücken zu schlagen und den Besuchern die Objekte lebendig zu machen, was z.B. durch die Arbeit mit Zeitzeugen möglich ist. Gleichzeitig muss der Museumspädagoge mit dem arbeiten, was die Besucher an biographischen Erfahrungen ins Museum mitbringen.

Den Einführungsvortrag hielt Arne Lietz, Vertreter der Weiterbildungsorganisation Facing History and Ourselves in Deutschland.3 Facing History and Ourselves wurde 1976 in den USA von zwei Lehrern gegründet. Diese stellten fest, dass sie im Geschichtsunterricht ihre Schüler besser erreichen konnten, wenn sie biographische Aspekte einbezogen. Sie entwickelten einen methodischen Ansatz, bei dem ein individualisierter Bezug zwischen Vergangenheit und Gegenwart durch die Auseinandersetzung mit historischen und ethischen Fragen zugelassen bzw. hergestellt wird. Dabei spielt die Identität der Schüler, ihre persönliche Betroffenheit, ihre Perspektive auf das Thema eine zentrale Rolle. In diesem Ansatz beschäftigen sich die Schüler zunächst mit ihrer eigenen Identität, ihrer Stellung in der Gesellschaft, ihrem Gerechtigkeitsempfinden und ihren Zukunftswünschen. Als nächster Schritt folgt die Distanzierung durch die Arbeit an einem, den amerikanischen Schülern fern liegenden, historischen Fallbeispiel aus Deutschland: dem Scheitern der Weimarer Republik, der Entwicklung des Nationalsozialismus und dem Holocaust. Anhand von Biographien erfahren die Schüler, was die politischen Übergänge für einzelne Menschen bedeuteten, wie mit Minderheiten umgegangen wurde und welche Entscheidungen Menschen treffen mussten und getroffen haben. Die Schüler wechseln ihre Perspektive und lernen so Empathie. Sie sollen nachvollziehen können, wie jemand zum Opfer, Täter oder Mitläufer wurde, aber auch, wie Menschen sich zwischen diesen Kategorien entwickelten. Anschließend müssen die Schüler in der Phase der Wertung eigene Position beziehen. Danach wird durch den Lehrer der Bogen vom Fallbeispiel zur eigenen amerikanischen Geschichte geschlagen. Im Mittelpunkt steht dabei der Umgang mit Minderheiten und Ausgrenzungen, wieder am Beispiel von Einzelpersonen. Dies wird zum Beispiel anhand der Behandlung der Rolle der Eugenik in den USA, dem Umgang mit Japanern in den USA nach Pearl Harbour oder dem Schicksal schwarzer Soldaten nach deren Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg thematisiert. Am Schluss steht die Auseinandersetzung der Schüler mit ihren Entscheidungsmöglichkeiten in schwierigen Situationen und ihrem Gerechtigkeitsempfinden. Die Organisation hat inzwischen Büros in verschiedenen amerikanischen Großstädten sowie Vertreter in Europa. Angeboten werden Lehrgänge für Lehrer sowie zahlreiche kostenlose Unterrichtsmaterialien. Die anschließende, kritische Diskussion im Seminar drehte sich vor allem um die Möglichkeit des Einsatzes der Methode und der Fallbeispiele in Deutschland.

Im Anschluss an den theoretischen Vortrag erprobten die Seminarteilnehmer ein Einstiegselement der Methodik von Facing History and Ourselves: Beim Zeichnen der eigenen Lebensstraße dachten die Teilnehmer über ihren Lebensweg und über Systemzwänge nach, denen sie ausgesetzt waren, um sich so ihren Perspektiven auf die Geschichte der DDR anzunähern. Durch das Vorstellen der Lebenswege in kleinen Gruppen lernten sich die Seminarteilnehmer besser kennen und machten sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihrer Sozialisation bewusst.

Nach dem Mittagessen führte Susanne Hattig durch die Gedenkstätte und stellte das museumspädagogische Programm vor. Für Schulklassen werden spezielle Projekte angeboten, in denen auch mit biographischen Ansätzen gearbeitet wird. Die Museumspädagogen bekamen die Gelegenheit, sich in die Rolle von Schülern zu versetzen und das Schülerprojekt „Spitzel hinter Gittern – Häftlinge als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit“ selbst auszuprobieren. Fünf Kleingruppen erarbeiteten aus schriftlichen Quellen des Ministeriums für Staatssicherheit Informationen über jeweils einen Spitzel. Im anschließenden Rollenspiel, bei dem der ehemalige Spitzel in heutiger Zeit vom Opfer oder den eigenen Familienangehörigen zur Rede gestellt wird, mussten Motivation der IMs sowie die Konsequenz deren Handelns dargestellt werden.

Der Perspektivenwechsel beschäftigte die Museumspädagogen doppelt: Zum einen im Versuch, die Motivation der Spitzel hinter Gittern nachzuvollziehen und zum anderen in der Reflexion darüber, was man Schülern in Projektarbeit abverlangt. Für Schulklassen schließt sich an das Rollenspiel eine Diskussionsrunde als Nacharbeit an. Die Schüler diskutieren darüber, ob man den Spitzel, der sich selbst in einer Zwangslage befand, moralisch verurteilen kann und darüber, welche Entscheidungsmöglichkeiten er hatte. Ziel des Projektes ist es, bei den Schülern Bewusstsein zu schaffen, sowohl über die Bedeutung von Zivilcourage und ihre eigenen Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten als auch über den Umgang mit der Geschichte der DDR in der eigenen Familie.

Die Seminarteilnehmer diskutierten über diese Lernziele sowie über methodische Probleme, z.B. ob durch das Rollenspiel Klischees reproduziert würden und ob historische Angemessenheit gewährleistet sei. Auch die Frage, ob die Schüler während ihrer selbständigen Arbeit in kleinen Gruppen, die in ehemaligen Gefängniszellen stattfindet, auch Spaß haben dürfen, wurde diskutiert. Susanne Hattig legte dar, dass die Schüler durch die biographische Perspektive emotional berührt werden und an der Diskussion auch Schüler teilnehmen, die sich im Unterricht kaum beteiligten.

Nach dem gemeinsamen Abendessen in der Jugendherberge Bautzen stellte Arne Lietz die Wanderausstellung „Choosing to Participate“ von Facing History and Ourselves vor. Thema der Ausstellung ist der Umgang mit Zivilcourage in der amerikanischen Gesellschaft. Das Ziel liegt in der Steigerung von Zivilcourage bei den Besuchern. Das Konzept bildete den Ausgangspunkt einer Diskussion über die Anwendung und Übertragbarkeit der Methoden von Facing History and Ourselves auf die eigene museumspädagogische Arbeit der Seminarteilnehmer. In einer weiteren praktischen Übung, die der Ausstellung entnommen war, konnten die Teilnehmer einen Teil des Konzeptes nachvollziehen: Jeder Teilnehmer sollte sich ein Ereignis in Erinnerung rufen, bei dem er die Möglichkeit hatte, positiv oder negativ zu handeln, seine Entscheidung begründen und überlegen, ob er wieder so handeln würde. In Kleingruppen erfolgte die Auswertung, mit der die Arbeit am ersten Tag des Seminars beendet wurde.

Am Sonnabend standen biographische Ansätze in der museumspädagogischen Praxis im Mittelpunkt des Seminars. Stefan Bresky stellte das Projekt „Migrationsgeschichten“ vor, das Teil des museumspädagogischen Begleitprogramms zur Ausstellung „Zuwanderungsland Deutschland“ im Deutschen Historischen Museum von Oktober 2005 bis Februar 2006 war. Zielgruppe des Projektes waren Berliner Realschulklassen, in denen sehr viele Schüler einen Migrationshintergrund haben. In diesem Projekt spielten die biographischen Erfahrungen der Schüler bzw. deren Familienmitglieder eine zentrale Rolle. Ergebnis des Projektes war eine kleine ‚Ausstellung in der Ausstellung’, in der Schüler Familiengegenstände ausstellten, die über Migration Auskunft gaben.

Das Projekt verfolgte zwei Ziele: Aus museumspädagogischer Sicht sollte eine museumsferne Zielgruppe ins Museum gebracht werden, aus geschichtsdidaktischer Sicht das Fremdverstehen gefördert werden. Die Evaluation am Ende des Projektes ergab, dass bei den Schülern Interesse am außerschulischen Lernort Museum geweckt wurde. Lob kam von Besuchern, die die Ausstellung durch die Schülerbeiträge als sehr lebendig empfanden. Kritik kam von Museumsmitarbeitern, die eine zu starke Verquickung der Schülerobjekte mit den wissenschaftlich recherchierten Objekten sahen, sowie die Lautstärke der Schüler kritisierte. Stefan Bresky empfahl besonders eine gute Dokumentation solcher Pilotprojekte für die eigene Arbeit sowie die Weiterführung der Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen verschiedener Institutionen, die das Projekt unterstützt hatten (wie Direktoren und Senatsschulverwaltung).

Anne Schweisfurth, Leiterin des Hafenmuseums Speicher XI in Bremen, stellte anschließend Entstehungsgeschichte und Konzept ihres Museums vor. Der Aufbau des Museums erfolgte mit Hilfe ehemaliger Hafenarbeiter, die ihre Erinnerungen sowie Exponate in die Entwicklung des Museums einbrachten. Im Museum werden Hafengeschichte, Arbeit im Hafen, Seefahrt, Wandel des Hafens und die Zukunft des Hafens als Überseestadt ausgestellt. Eine konzeptionelle Leitlinie des Museums bildet der biographische Ansatz. Besucher erfahren an Hörstationen, welche Erinnerungen Zeitzeugen an bestimmte Ereignisse und Erlebnisse haben. Eine ‚Ausstellung in der Ausstellung’ mit dem Titel „Mein Hafenmuseum“ zeigt Exponate von Hafenarbeitern zusammen mit autobiographischen Texten. Anne Schweisfurth berichtete über ihre Erfahrungen im Umgang mit Zeitzeugen. Sie legte dar, dass eine gute Betreuung und auch Weiterbildung von Zeitzeugen notwendig ist, damit diese ihr Wissen an Besucher, z.B. Schüler weitergeben können. Entsprechende Erfahrungen dazu wurden in der Umweltbildung gesammelt.4

Auf die Vorstellung der Beispiele folgte ein Zeitzeugengespräch. Matthias Nagel vom Bautzner Verein Brücke e.V. berichtete über seine Erinnerungen an das Gefängnis vor und nach 1989 sowie über seine Erfahrungen in der Betreuung von Gefangenen und Bediensteten. Thematisch schlug das Gespräch den Bogen zurück zum Tagungsort Gedenkstätte Bautzen am Vortag, methodisch gab es den Seminarteilnehmern die Möglichkeit des Gesprächs mit einem Zeitzeugen.

Anschließend entwickelten die Seminarteilnehmer in einem Brainstorming ein methodisches Raster für die Erarbeitung eines biographiebezogenen museumspädagogischen Programms. Es wurden wichtige Kriterien wie die Beziehung von Objekt und Subjekt im Verhältnis zum gesellschaftlichen Raum, Perspektivwechsel, Multiperspektivität und Nachhaltigkeit benannt und diskutiert. Am Beispiel von Zeitzeugenberichten aus dem Überseehafen Bremen versuchten die Seminarteilnehmer zum Abschluss, in kleinen Gruppen, ein museumspädagogisches Programm zum Thema Zwangsarbeit zu entwickeln und die gerade benannten Kriterien zu berücksichtigen. Die sehr unterschiedlichen Entwürfe wurden anschließend vorgestellt und teilweise kontrovers diskutiert.

Das Feedback der Teilnehmer auf das Seminar war sehr positiv. Besonders hervorgehoben wurde der Methodenwechsel während der Tagung sowie das sofort mögliche Ausprobieren einiger methodischer Ansätze und die Gelegenheit zur ausführlichen Diskussion. Die Teilnehmer hatten aufgrund der begrenzten Teilnehmerzahl die Möglichkeit, miteinander gut ins Gespräch zu kommen, untereinander Erfahrungen auszutauschen und zu diskutieren. Die Vielseitigkeit des Einsatzes von Biographien in der Museumspädagogik wurde durch das Seminar sehr gut verdeutlicht, besonders die Möglichkeit zur Betrachtung der jüngeren Geschichte. Die Museumspädagogen nahmen so viele Anregungen für ihre Arbeit mit nach Hause.

Anmerkungen:
1 Zur Arbeit des AKMPO vgl. dessen Website www.museumspaedagogik.org/akmpo.
2 So die Tagung „Jugendkulturen im Museum ... auf der Suche nach einer Zielgruppe“ vom 4.-5.11.2005 in Halle, Franckesche Stiftungen. In der Dezember-Ausgabe von Standbein Spielbein. Museumspädagogik aktuell 2006 werden Vorträge der Tagung publiziert.
3 Weitere Informationen zu Facing History and Ourselves in: Lietz, Arne, Facing History and Ourselves, in: ZEP 28 (2005), Heft 3, S. 35 sowie unter www.facinghistory.org.
4 Vgl. Olejniczak, Claudia; Geißler, Clemens (Hgg.), Alt und Jung. Generationen in der Umweltbildung und Naturschutzarbeit. Praxisbuch, Hannover 2006.

www.museumspaedagogik.org/akmpo
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